21-3792

Angesichts zunehmender Extremwetterlagen: Sind pflegebedingte Fällungen wissenschaftlich und grünpolitisch noch zeitgemäß? Kleine Anfrage von Niclas Krukenberg (Fraktion DIE LINKE)

Kleine Anfrage öffentlich

Bera­tungs­reihen­folge
Gremium
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13.03.2023
07.03.2023
23.02.2023
Sachverhalt

In jeder Fällsaison finden Baumfällungen aus verschiedenen Gründen statt. Allein aufgrund der Drucksache 21-3661 "Baumfällungen auf öffentlichem Grund" vom Januar 2023 sollen knapp 100 Bäume gefällt werden. In mehr als 10% der Fälle lauten die angegebenen Gründe: "Bestandspflege" oder - genauer gesagt - "Konkurrenzdruck", "Dichtstand", "Förderung Nachbarbuche" (Fällung einer Kiefer) etc.
In der Drucksache 21-3662 "Baumfällungen auf privatem Grund" heißt es, dass fast 50% der 100 Bäume "pflegebedingt" (teilweise "pflegebedingt/verkehrsbedingt") gefällt wurden. Das bedeutet, dass unter Umständen gesunde und an den Standort angepasste Bäume gefällt werden, um eine bewachsene Fläche aufzulichten oder Platz für das Wachstum anderer Bäume zu machen. Die Praxis der Auflichtung kann in Trockenperioden zu Hitzeschäden an den verbliebenen Bäumen führen und bei Starkregen und Stürmen zu Sturmschäden in der verbliebenen Vegetation.

In Zeiten des voranschreitenden Klimawandels ist die Praxis "pflegebedingter Fällungen" und der traditionellen "Bestandspflege" zwingend zu hinterfragen und neu zu definieren, um ggf. die Ressourcen des Grünamtes anders zu verwenden.

 

Das Bezirksamt Altona beantwortet die Fragen wie folgt:

 

Vorbemerkung:

Grundsätzliche Fragestellungen jeder Art (wie z.B. Frage 2.c) sind nach der als bekannt voraussetzenden Zuständigkeitsverteilung innerhalb der Freien und Hansestadt Hamburg ausnahmslos an die jeweils zuständige Fachbehörde zu richten. Dies vorausgeschickt beantwortet das Bezirksamt die Fragen wie folgt:

 

  1. Definition der "Bestandspflege":

a)      Wie genau definiert das Grünamt die "Bestandspflege"/ "pflegebedingt" (auch in Abgrenzung zu "verkehrsbedingt") und auf Grundlage welcher Regelwerke?

Das Regelwerk "Arbeitshinweise zum Vollzug der Baumschutzverordnung und der dabei zu beachtenden artenschutzrechtlichen Vorschriften" erlaubt Fällungen bei "Maßnahmen der Bestandspflege" und zur "Entnahme einzelner Gehölze“ z.B. zur Vermeidung von Konkurrenzen und Fehlwuchs, Förderung, oder Umbau des Bestands. Näheres z.B. Abgrenzung zu Pflegemaßnahmen ohne Fällung wird nicht erläutert.

 

Zu 1:

Nach der VOB/C ATV DIN 18919 wird unterschieden zwischen Instandhaltungsleistungen zur Entwicklung (Entwicklungspflege) und Instandhaltungsleistungen zur Unterhaltung (Unterhaltungspflege). In dieser DIN werden Leistungen zur Erzielung und Erhaltung des funktionsfähigen Zustandes eines Gehölzes oder einer Gehölzgruppe beschrieben. Die konkreten Schnittmaßnahmen sind in der ZTV Baumpflege beschrieben. Die Entscheidung, ob Schnitt- oder Fällmaßnahmen durchgeführt werden, erfolgt u.a. auf der Grundlage der FLL- Richtlinie für Baumkontrollen zur Überprüfung der Verkehrssicherheit. Hinzu kommen artenschutzrechtliche Bestimmungen, die Naturschutzgesetzgebung sowie die Baumschutzverordnung mit Ausführungsbestimmungen. Zur Beurteilung der Vitalität von Baumkronen, Stamm und Wurzeln sowie zur Entscheidung über die Entwicklung eines Gehölzbestandes werden in der täglichen Praxis verschiedene aktuelle wissenschaftliche Werke aus der Holzbiologie, der Arboristik und der Dendrologie sowie der Landschaftsplanung herangezogen. Die obige Aufzählung der Regelwerke und Grundlagen sind nicht abschließend.

 

  1. Fällgrund "Dichtstand", "Konkurrenzdruck", "Förderung Nachbarbaum" und wissenschaftliche Grundlagen

a)      Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage wird aktuell ein Baum gefällt, um das Wachstum des Nachbarbaumes/ der Nachbarbäume zu fördern ("Dichtstand" oder "Konkurrenzdruck")?

 

Zu 2. a:

s. Vorbemerkung; zu den Regelwerken siehe Antwort zu 1.

 

Im Übrigen:

Grundlage des „Konkurrenzdrucks“ von Gehölzen ist der sogenannte „Phototropismus“(„Lichthungrigkeit“) in Verbindung mit der jeweiligen baumspezifischen Wachstumsgeschwindigkeit. Diese führt zum einen zum Verdrängen von langsam wachsenden Bäumen durch schnell wachsende Bäume („Eichen-Buchen-Wald“). Zum anderen führt der Phototropismus auch bei den einzelnen Bestandsbäumen selbst zu miteinander konkurrierenden Ästen und Kronenbereichen, die ohne Pflegemaßnahmen bis zur Schwächung und Destabilisierung der Einzelbäume führen. Fällungen müssen dann aufgrund von langfristig entstandenen Pflegemängeln durchgeführt werden.

Ziel ist auch hier das Erreichen der Funktion eines Baumes oder eines Gehölzbestandes an seinem Standort.

 

b)      Wird bei der Verwaltungspraxis der Fällungen wegen "Konkurrenzdrucks" angenommen, dass Bäume derselben Art und Bäume verschiedener Arten ausschließlich in Konkurrenz zueinanderstehen? Auf welcher wissenschaftlichen Grundlage wird dies angenommen?

 

Zu 2. b:

Nein. Bäume derselben Art und auch Bäume verschiedener Arten können sich gegenseitig im Wachstum und im Erhalt unterstützen. In Waldparkbeständen und Baumalleen ist aus empirischen Untersuchungen abzuleiten, dass Bäume einander z.B. Windschutz und Schutz vor UV-Strahlung bieten und im Bodenbereich gemeinsam Wasser und Nährstoffe erschließen.

 

c)      Welche Stellung bezieht das Amt bezüglich der neueren Forschung z.B.

https://www.wissenschaft.de/erde-umwelt/das-miteinander-macht-baeume-stark/, die besagt, dass mehrere Bäume nebeneinander nicht zwingend in Konkurrenz stehen, sondern ein Ökosystem bilden?

 

Zu 2. c:

s. Vorbemerkung.

 

 

  1. Veränderte Bedingungen der Grünpflege

a)      Das Fällen gesunder, an den Standort angepasster Bäume, die keine Gefahr darstellen, steht im Widerspruch zu dem Klimaplan der BUKEA (Stichwort "Schwammstadt", "die Verringerung des städtischen Hitzeinseleffekts" durch grüne Inseln etc., CO2-Speicherung). Warum wird die Praxis "pflegebedingter Fällungen" oder "Fällungen zur Bestandspflege" wegen "Dichtstandes"/"Konkurrenzdrucks" dennoch fortgesetzt?

 

Zu 3.a:

Siehe Antwort zu 2. a.

 

b)      Das Auftreten von extremen Wetterlagen macht eine Vorhersage, welche Bäume aus einer Baumgruppe eine Zukunft haben und welche nicht, viel schwieriger. Warum macht es aus der Sicht des Amtes dennoch weniger Sinn, die Selektion der Natur zu überlassen statt zu entscheiden, dass ein bestimmter Baum gefällt wird, um die übrigen zu "fördern"?

 

Zu 3. b:

Die Verluste von Baumbeständen durch z.B. Orkanereignisse sind unabhängig von den regulären Fällmaßnahmen zu betrachten. Zudem führen Sturmschäden zu weiteren Pflegemaßnahmen z.B. durch Verluste von Waldrandbäumen.

Es ist zu unterscheiden zwischen Bäumen an stark frequentierten Straßen, Spielplätzen und Grünanlagen einerseits und Waldparkbereichen mit niedriger Nutzungsfrequenz. Flächen mit hoher Sicherheitserwartung sind in kürzeren Intervallen zu pflegen, hier kommt es dann auch eher zu Fällungen. Wo es möglich ist, werden Stammstücke bei Fällungen als Baumhabitate stehen gelassen.

Eher abgelegene Flächen in waldartigen Beständen können in längeren Intervallen gepflegt werden. Sturmschäden in abgelegenen Beständen können aufgrund der ökologischen Funktion des liegenden Holzes auch längerfristig dort verbleiben.

 

c)      Das Aussetzen von "pflegebedingter Fällungen" oder "Fällungen zur Bestandspflege" würde Geld, Personal und CO2 sparen und den Bestand vor Trocken- und Sturmschäden schützen (s. https://besjournals.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1002/2688-8319.12087). Warum wird diese Praxis dennoch fortgesetzt?

 

Zu 3. c:

siehe Vorbemerkung;

Fällungen im Baumbestand des Bezirks Altona werden derzeit bereits auf das Notwendigste beschränkt. Die Verkehrssicherheit und der langfristige Erhalt des Baumbestandes stehen hierbei im Vordergrund. (siehe auch Antwort zu 2. a).

 

Petitum/Beschluss

:

Die Bezirksversammlung wird um Kenntnisnahme gebeten.

 

Anhänge

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