21-2060

Antrag SPD betr. Wann kollabiert die medizinische Versorgung in Harburg und Süderelbe?

Antrag

Bera­tungs­reihen­folge
Gremium
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09.05.2022
22.03.2022
Sachverhalt


 

Die medizinische Versorgung in Hamburg ist geprägt von gleichzeitiger Über- und Unterversorgung. Hier kommt es – wie so oft – auf die Betrachtungsweise an. Folgt man der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH) und fasst man die gesamte Stadt zu einem einheitlichen Versorgungsgebiet zusammen, so ist Hamburg sehr gut versorgt. Fragt man jedoch die Menschen vor Ort, so sieht es in vielen Stadtteilen gänzlich anders aus. 

In Harburg und insbesondere in der Region Süderelbe herrscht ein faktischer Ärzt:innenmangel. Schon jetzt fehlen Haus- und Kinderärzt:innen, er herrscht Aufnahmestopp in vielen Praxen, durch neue Baugebiete nimmt die Bevölkerung zu und frei werdende Ärzt:innenstellen können dennoch oftmals nicht neu besetzt werden. Dieser untragbare Zustand ist Folge der eingangs beschriebenen Betrachtungsweise. Die Ungleichheit der medizinischen Versorgung in Hamburg korreliert positiv mit den Daten des Morbiditätsatlas und negativ dem sozioökonomischen Status der Bevölkerung. Oder einfacher ausgedrückt: wo die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung höher ist und das durchschnittliche Bevölkerungseinkommen niedriger und somit die Zahl der Privatpatient:innen geringer ist, da gibt es auch weniger Ärzt:innen. 

Ärzt:innen können mit weniger Patient:innen in gut situierten Lagen höhere Einnahmen erzielen, als ihre Kolleg:innen in weniger gut situierten Lagen. Nachfolger:innen können kaum noch gefunden werden und frei werdende Ärzt:innen-Sitze wurden aus den bereits unterversorgten Regionen abgezogen.

Dieses Problem kennen leider nicht nur die Menschen in Harburg. Auch andere Bezirke und Stadtteile wie Bergedorf leiden unter dieser Verteilung von Ärzt:innensitzen. 

Stadtteile mit einem hohen Anteil an SGBII-Empfängern und Kindern mit SGBII-Bezug sind unterversorgt oder davon bedroht. Der Versorgungsgrad mit Hausärzten liegt in Jenfeld bei 75 Prozent, in Steilshoop bei 72 Prozent, in Dulsberg lediglich bei 47 Prozent, in Eidelstedt bei knapp 62 Prozent und in Neuallermöhe bei 54 Prozent. In Blankenese hingegen ist mit 224 Prozent, Rotherbaum mit 161 Prozent und Volksdorf mit 173 Prozent eine Überversorgung gegeben. Noch deutlicher ist die Lage bei den Kinderärzten. In Billstedt liegt der Versorgungsgrad bei nur 29 Prozent, in Wilhelmsburg und Jenfeld bei 56 Prozent und in Steilshoop bei 50 Prozent. Auf der Veddel und in Dulsberg gibt es keine Kinderärzt:in. Immer wieder berichten besorgte Eltern, dass sie für ihre Kinder nicht einmal für die frühen Vorsorgeuntersuchungen ihrer Neugeborenen (U2 bis 14 Tage nach Geburt bzw. U3 zwischen 3. und 8. Woche) Termine bekommen können.

Harburg Kern mit 204 Prozent und Sinstorf mit 114 Prozent sind die einzigen beiden Stadtteile im Bezirk Harburg, die keine Versorgungsnotlage aufweisen. Können diese zwar noch als Einzugsgebiet die unterversorgten umliegenden Stadtteile aufnehmen, so sieht es im Westen des Bezirks gänzlich anders aus. Der stark wachsende Stadtteil Neugraben-Fischbek liegt mit 75 Prozent genau am Rande der Unterversorgung, hat als Einzugsgebiete allerdings stark unterversorgte Stadtteile wie Hausbruch (38), Neuenfelde (33) und Finkenwerder (69), sowie mit Cranz, Francop und Moorburg sogar Stadtteile ohne eigenen Hausärzt:innensitz. 

Dieser Zustand ist in einer modernen und solidarischen Stadt untragbar. 

Hierzu haben bereits im Koalitionsvertrag Hamburger SPD und GRÜNE ausgeführt: „Alle rechtlichen Möglichkeiten werden ausgeschöpft, um die ambulante medizinische Versorgung entsprechend dem Bevölkerungswachstum auszubauen und in allen Stadtteilen eine gute Versorgung insbesondere mit Kinder- und Hausärzten sicher zu stellen. 

Mit Drucksache 21-1473 Antrag SPD betr. Auf dem Weg in die medizinische Unterversorgung im Bezirk Harburg?vom Juni 2021 hat die SPD-Fraktion Harburg auf mehr als ein Dutzend ihrer Anträge zu diesem Thema verwiesen und erneut eine Einladung der KVHH in den zuständigen Fachausschuss gefordert. Diese Forderung wird erneuert und ergänzt. 

Wie können diese im Koalitionsvertrag angesprochenen Möglichkeiten aussehen? 

Es werden zusätzliche Ärzt:innensitze ggfs. über Sonderbedarfszulassungen in unterversorgten Gebieten durch den Zulassungsausschuss der KVHH genehmigt. 

Die Betrachtung des Versorgungsgebietes kann kleinräumiger erfolgen und Verlegungen von Ärzt:innensitzen aus geringer versorgten Gebieten werden nicht zugelassen. Ein dahingehender Antrag der Fraktionen von SPD und GRÜNE ist am 3.2.22 in der Hamburgischen Bürgerschaft beschlossen worden.

Frei werdende Ärzt:innensitze in überversorgten Regionen werden über geeignete Maßnahmen in geringversorgte Regionen verlagert. 

Die Zulassungspflicht für Ärzt:innen wird aufgehoben, wie es auch bei den Zahnärzt:innen erfolgt ist. Der Virchowbund hat dieses Recht 1960 vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten. Und doch schränkt die Bedarfsplanung des Sozialgesetzbuch V seit Jahren die Niederlassungsfreiheit für Vertragsärzt:innen ein. Sie beschneidet damit die ärztliche Freiberuflichkeit und das Patientenrecht auf freie Arztwahl. Ein Praxensterben bei den Zahnärzt:innen ist dadurch nicht erfolgt. 

Es werden vermehrt und zielgerichtet medizinische Versorgungszentren (MVZ) eingerichtet. Diese können von Ärzt:innen bzw. Krankenhäusern betrieben werden und ermöglichen eine Anstellung von Ärzt:innen. Das ist für viele, gerade jüngere, Mediziner:innen eine gute Alternative zu der zeitlich und finanziell stark herausfordernden Situation mit eigener Praxis. Hier ist auch die work-life-balance ein wichtiger Aspekt. Nach einer Gesetzesänderung ist es auch inzwischen möglich, kommunale MVZ zu betreiben. Hier ist zu prüfen, ob das auch in Hamburg als Einheitsgemeinde auf bezirklicher Ebene möglich ist oder nur auf städtischer Ebene. 

Die KVH darf, um die Versorgung sicher zu stellen, Praxen mit angestellten Ärzt:innen betreiben. Dies setzt jedoch das Einverständnis der dort ansässigen Ärzt:innen voraus. 

Sicherlich sind noch weitere Möglichkeiten vorhanden, wie zum Beispiel niedergelassenen Ärzt:innen befristet Zuschüsse für die Anstellung von Ärzt:innen zu gewähren, sofern dies mit dem Ziel der regionalen Niederlassung geschieht. 

Zur zukunftsfähigen Sicherstellung der medizinischen Versorgung ist ein koordiniertes Vorgehen aller beteiligten Akteure erforderlich. Diese sollen im Ausschuss für Soziales, Integration, Gesundheit und Inklusion vorstellen, welche Bemühungen in den vergangenen Jahren erfolgten, um die medizinische Versorgung auf kleinräumig zu sichern, welche Erfolge dies gehabt hat und wie sich die Lage der medizinischen Versorgung in den vergangenen Jahren kleinräumig im Bezirk entwickelt hat bzw. welche Perspektiven für die kommenden Jahre bei einer unveränderten Verfahrensweise vorhanden sind. 

Petitum/Beschluss


 

Das vorsitzende Mitglied der Bezirksversammlung wird gebeten, Referent:innen aus der Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration, der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH) und des Bezirksamts umgehend in den Ausschuss für Soziales, Integration, Gesundheit und Inklusion einzuladen. 

Dort sollen sie berichten: 

1. Welche Bemühungen in den vergangenen Jahren erfolgten, um die medizinische Versorgung auch kleinräumig zu sichern, welche Erfolge dies gehabt hat und wie sich die Lage der medizinischen Versorgung in den vergangenen Jahren kleinräumig im Bezirk entwickelt hat bzw. welche Perspektiven für die kommenden Jahre bei einer unveränderten Verfahrensweise vorhanden sind. 

2. Ob die rechtlichen Voraussetzungen vorhanden sind, damit neben der KVH und der Stadt Hamburg auch der Bezirk als Träger eines medizinischen Versorgungszentrums auftreten kann. 

3. Welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, um eine kleinräumige Betrachtung des Versorgungsgebiets umsetzen zu können, wie es z.B. im Berliner Modell stattfindet. 

4. Auf welche Weise die Bedarfsplanung des Sozialgesetzbuch V angepasst werden kann, um der schlechten regionalen Versorgungslage etwas entgegenzusetzen. 

5. Insbesondere möge das vorsitzende Mitglied der Bezirksversammlung dem neu zum 1. April gewählten Vorsitzenden der KVH eine Einladung zu dieser Sitzung aussprechen, um ihm die Vorstellung seiner Person und der künftigen Ausrichtung der KVH für Hamburg aber auch und gerade für Harburg und Süderelbe, zu ermöglichen.