Psychische Belastungen durch Corona ernst nehmen: Zusätzliche Kapazitäten für Kinder- und Jugendpsychotherapeut:innen schaffen Drs. 21-3076, Beschluss der BV vom 30.06.2022
Mit dem o.g. Antrag hat die Bezirksversammlung Eimsbüttel folgendes Anliegen dargestellt:
Sachverhalt:
Die Corona-Pandemie hat weiterhin gravierende Auswirkungen auf die psychische Verfassung vieler Kinder und Jugendlicher. Das zeigte zuletzt die jüngst vorgelegte Umfrage der Hamburger Psychotherapeutenkammer, aus der hervorgeht, dass der Bedarf an psychotherapeutischen Leistungen für Kinder und Jugendliche bedingt durch die Corona-Pandemie weiterhin wachst. Dem gestiegenen Therapiebedarf steht laut der Umfrage jedoch ein Mangel an Therapieplatzen für Kinder und Jugendliche gegenüber: Mussten Kinder und Jugendliche vor der Corona-Pandemie im Schnitt 13 Wochen auf einen Beratungstermin bzw. Therapieplatz warten, sind es aktuell 30 Wochen. Zugleich warnt die Kammer davor, dass sich Corona-Auffälligkeiten zu chronischen Krankheiten auswachsen können.
Um die Zukunft der Kinder und Jugendlichen zu sichern, müssen ihre Bedürfnisse dringend mehr unterstützt und in den Fokus gerückt werden - auch im psychotherapeutischen Bereich. Ein temporarer Ausbau der kinder- und jugendtherapeutischen Versorgung Liese sich mittels Erteilung sogenannter Ermächtigungen zugig erreichen. Sie erlaubt es Ärzten und Psychotherapeuten für einen festgelegten Zeitraum (in der Regel zwei Jahre) – auch ohne Regular vertragsärztlich tätig zu sein – gesetzlich Krankenversicherte zu behandeln und Leistungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung abzurechnen. Ermächtigungen können erteilt werden, wenn da durch eine bestehende oder unmittelbar drohende Unterversorgung abgewendet werden kann.
Die Psychotherapeutenkammer spricht sich zudem dafür aus, dass gesetzlich Versicherten ein schnellerer Zugang zur Psychotherapie durch eine unbürokratische Kostenerstattung außervertraglicher Psychotherapien in Privatpraxen ermöglicht wird.
Beschluss:
2. Der Vorsitzende der Bezirksversammlung wird darüber hinaus gebeten, die Behörde
für Schule und Berufsbildung zu ersuchen, die Behandlung psychisch kranker Kinder
und Jugendlicher durch Freistellungen vom Unterricht zu unterstutzen.
Die Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration (Sozialbehörde) nimmt zu Ziffer 1. des o. g. Beschluss, teilweise auf Grundlage von Auskünften der Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg (KVH), wie folgt Stellung:
Grundsätzlich gilt, dass die Gewährleistung einer flächendeckenden, wohnortnahen vertragsärztlichen Versorgung der Bevölkerung sowie die Vermeidung von Fehlversorgung gemäß § 75 SGB V Aufgaben der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und der Kassenärztlichen Bundesvereinigungen sind. Die Bedarfsplanung ist das Instrument zur Bewertung und Sicherstellung der ambulanten Versorgung im jeweiligen Planungsbereich. Dafür wird mit einer gesetzlich nach §§ 99 ff. SGB V und der Bedarfsplanungsrichtlinie vorgegebenen Berechnung mithilfe arztgruppenspezifischer Verhältniszahlen ein Versorgungsgrad bzw. eine sogenannte Sollzahl ermittelt, die die Grundlage dafür sind, ob sich in einem Planungsbereich zusätzliche Ärztinnen und Ärzte niederlassen. Auch dienen sie als Entscheidungsgrundlage, welche Maßnahmen zur Sicherstellung der Versorgung ergriffen werden können. Ein Versorgungsgrad von 100 Prozent gilt als bedarfsgerecht.
Auch nach der aktuellen Überarbeitung der Bedarfsplanungsrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) bleibt räumliche Grundlage für die Ermittlung des Versorgungsgrades zum Stand der vertragsärztlichen Versorgung sowie für die Feststellungen zur Über- oder Unterversorgung in Hamburg der Gesamtbereich der Freien und Hansestadt Hamburg. Für die Stadtteile und Bezirke gibt es demnach keine vorgeschriebenen Quoten für die verschiedenen Fachrichtungen. Nach der Bedarfsplanungs-Richtlinie ist Hamburg insgesamt gesehen für alle Facharztgruppen überversorgt (über 110 Prozent), mit Ausnahme der Frauenärzte (109,5 Prozent) und Kinder- und Jugendärzte (108,8 Prozent).
Die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten sind keine eigene Bedarfsplanungsgruppe, sondern sie gehören zur Gruppe der Psychotherapeutinnen und
-therapeuten. Der Versorgungsgrad dieser Gruppe liegt bei 160,1 Prozent, die Zahl der Psychotherapeutinnen und -therapeuten liegt also deutlich über der Sollzahl. Der in § 101 Abs. 4, S. 5 festgelegte Anteil von Psychotherapeutinnen und -therapeuten, die lediglich Kinder und Jugendliche behandeln, beträgt 20 Prozent und wird in Hamburg auch erfüllt. Zum Versorgungsgrad je Arztgruppe zum aktuell lieferbaren Stand 1.1.2021 wird auf die als Anlage beigefügte Anlage 2.2 zum Hamburger Bedarfsplan verwiesen.
Die KVH hat in ihrer Stellungnahme zu dem vorliegenden Antrag auch eine starke Überversorgung für den Bezirk Eimsbüttel beschrieben. Das Leistungsgeschehen, gemessen an der Fallzahl der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten, ist im Vergleich der letzten Jahre angestiegen. Betrug die Fallzahl im Jahr 2018 gut 21.000 Fälle, lag diese im Jahr 2021 um knapp 17 Prozent höher. Auch die durchschnittliche Fallzahl hat um knapp zehn Prozent zugenommen. Erkenntnisse aus der Terminservicestelle oder der Patientenberatung mit Blick auf die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen im Bezirk Eimsbüttel liegen der KVH nicht vor.
Über Vertragsarztsitze, (Sonderbedarfs-)Zulassungen und Ähnliches entscheidet die gemeinsame Selbstverwaltung von Krankenkassen und Ärztinnen beziehungsweise Ärzten in den Zulassungsgremien nach §§ 95 ff. SGB V eigenständig und nicht weisungsgebunden. Die für Gesundheit zuständige Behörde hat lediglich ein Mitberatungsrecht, welches regelmäßig wahrgenommen wird. Lokale Versorgungsbedarfe werden analog der Kriterien des Maßnahmenpapiers bewertet. Über eine Anpassung der Verhältniszahlen in der Bedarfsplanung entscheidet der G-BA.
Soweit bekannt, soll das Thema der Versorgungsprobleme und Wartezeiten bei Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut:innen im Unterausschuss Bedarfsplanung des G-BA auf einer Sitzung im September 2022 weiter beraten werden. Wie lange die Beratungen dauern werden und ob dies auch zu einer Veränderung der Verhältniszahlen führen wird, ist derzeit nicht absehbar. Der aktuelle Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht eine Reform der psychotherapeutischen Bedarfsplanung vor, damit Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, insbesondere für Kinder und Jugendliche, aber auch in ländlichen und strukturschwachen Gebieten deutlich reduziert werden. Die KVH weist darauf hin, dass aufgrund der in Hamburg vorliegenden starken Überversorgung mit psychotherapeutischen Sitzen die Verhältniszahlen durch den G-BA deutlich angepasst werden müssten, damit sich nicht nur der Grad der Überversorgung reduziert, sondern aus einer Anpassung zusätzliche Sitze entstehen. Die KVH hält dies für unwahrscheinlich. Eine Erhöhung des gesetzlich festgeschriebenen Anteils der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten an den Psychotherapeuten würde - zumindest in Hamburg - zusätzliche Kapazitäten für die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen schaffen; allerdings im Rahmen der Bedarfsplanung zu Lasten der Kapazitäten für Erwachsene.
In Hamburg nimmt die „Landeskonferenz Versorgung“ Aufgaben des gemeinsamen Landesgremiums nach § 90a SGB V und des sektorenübergreifenden Pflegeausschusses nach § 8a Abs. 2 SGB XI wahr. Zu den Mitgliedern gehören u.a. die KVH, die Psychotherapeutenkammer Hamburg, sowie die Landesvertretungen der Krankenkassen und weitere Akteure. Die „Landeskonferenz Versorgung“ hat seit dem Jahr 2021 für die kommenden Jahre das Schwerpunktthema „Verbesserung der psychischen Gesundheit und der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen“ festgelegt. Die Bearbeitung erfolgt in einer für diesen Zweck eingesetzten Arbeitsgruppe und fokussierte sich in der ersten Phase auf die Schnittstellen und Übergänge sowohl innerhalb als auch zwischen den Versorgungssystemen und Hilfs- und Unterstützungsangeboten. Bei der Betrachtung und Bewertung der relevanten Schnittstellen und Übergänge werden die Qualität von Verzahnung und Koordination, die Vernetzung der Akteure, die Sicherstellung einer kontinuierlichen Versorgung und die Art der Ansprache der Zielgruppe einbezogen. Neben Versorgungsmaßnahmen sollen auch präventive Hilfsangebote in den Blick genommen werden. Präventive Hilfsangebote für betroffene Familien und ihre Kinder fördern die psychische Gesundheit von betroffenen Kindern und Jugendlichen und könnten mit der Versorgung erkrankter Eltern verknüpft werden. Von besonderer Bedeutung ist hier die Schnittstelle zwischen der Primärprävention sowie Gesundheitsförderung in relevanten Lebenswelten und der psychiatrischen und psychotherapeutischen Versorgung. Auf der Basis der Beratungen sollen Handlungsnotwendigkeiten und -möglichkeiten, aber auch Hindernisse in Bezug auf die Landesebene ermittelt werden. Diese schließen auch die jeweiligen Beiträge zu Verbesserungen der einzelnen Mitglieder der Landeskonferenz ein. Im Übrigen sind die Überlegungen und Planungen noch nicht abgeschlossen.
In der o. a. Angelegenheit nimmt die Behörde für Schule und Berufsbildung (BSB) zum Beschluss Drs. 21-3076 wie folgt Stellung:
Der Beschluss entspricht schon jetzt der Handlungspraxis an den Hamburger Schulen.
Grundsätzlich erkennen Schulen Fehlzeiten, die durch die nachgewiesene Wahrnehmung von ambulanten therapeutischen Maßnahmen entstehen, als entschuldigt an. Dies gilt für alle notwendigen Behandlungen, z.B. auch für orthodontische Behandlungen, Dialyse, Rehabilitation, Psychotherapie etc.
Psychische Gesundheit ist eine wesentliche Vorrausetzung für den Lernerfolg. Hier werden für die betroffenen Schülerinnen und Schülern die notwendigen Voraussetzungen geschaffen, die aktuell begrenzt vorhandenen therapeutischen und ärztlichen Angebote wahrzunehmen. Dies gilt auch für den Fall, dass außerhalb der Unterrichtszeiten keine Angebote verfügbar sind. Es gilt hier im Einzelfall flexible Lösungen mit den betroffenen Schülerinnen und Schülern sowie deren Sorgeberechtigten zu finden, wie Therapietermine wahrgenommen und versäumte Lerninhalte nachgeholt werden können.
Sollte die regelmäßig an denselben Wochentagen und Uhrzeiten angesetzte Therapie dazu führen, dass immer dieselben Unterrichtsfächer oder schulischen Angebote betroffen sind, sucht die Schule zusammen mit den Sorgeberechtigten und der Therapieeinrichtung nach einem vertretbaren Ausgleich zwischen den therapeutischen Notwendigkeiten, den organisatorischen Erfordernissen der Praxis und den schulischen Belangen der Schülerin oder des Schülers. Nötigenfalls kommt eine Unterstützung durch die Beratungsstelle Pädagogik bei Krankheit (BBZ) in Betracht.
Insbesondere im Zusammenhang mit den psychischen Folgen der Schulschließungen und des Distanzunterrichts sollten die Teilnahme an der Therapie und die regelmäßige Teilnahme am Unterricht (Erleben von Zugehörigkeit, Umgang mit Gleichaltrigen und Förderung von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen) einander so wenig wie möglich ausschließen. In diesem Sinne sollte im Einzelfall mit der Therapieeinrichtungen geprüft werden, ob Termine für die psychotherapeutische Behandlung genau dieser betroffenen Kinder und Jugendlichen außerhalb der üblichen Unterrichtszeiten möglich sind.
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Um Kenntnisnahme wird gebeten.