21-3024

Tempo 30 als Standard vor Kitas und Schulen und Altenheimen Antrag der Fraktion GRÜNE

Antrag öffentlich

Bera­tungs­reihen­folge
Gremium
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28.04.2022
Sachverhalt

Innerhalb geschlossener Ortschaften ist die Geschwindigkeit im unmittelbaren Bereich von an Straßen gelegenen Kindergärten, -tagesstätten, -krippen, -horten, allgemeinbildenden Schulen, Förderschulen für geistig oder körperlich behinderte Menschen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern in der Regel auf Tempo 30 km/h zu beschränken, soweit die Einrichtungen über einen direkten Zugang zur Straße verfügen oder im Nahbereich der Einrichtungen starker Ziel- und Quellverkehr mit all seinen kritischen Begleiterscheinungen (z.B.

  • Bring- und Abholverkehr mit vielfachem Ein- und Aussteigen,
  • erhöhter Parkraumsuchverkehr,
  • häufige Fahrbahnquerungen durch Fußgänger,
  • Pulkbildung von Radfahrern und Fußgängern)

vorhanden ist. Dies gilt insbesondere auch auf klassifizierten Straßen (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) sowie auf weiteren Vorfahrtstraßen (Zeichen 306).

 

Im Ausnahmefall kann auf die Absenkung der Geschwindigkeit verzichtet werden, soweit etwaige negative Auswirkungen auf den ÖPNV (z.B. Taktfahrplan) oder eine drohende Verkehrsverlagerung auf die Wohnnebenstraßen zu befürchten ist. In die Gesamtabwägung sind dann die Größe der Einrichtung und Sicherheitsgewinne durch Sicherheitseinrichtungen und Querungshilfen (z.B. Fußgängerüberwege, Lichtzeichenanlagen, Sperrgitter) einzubeziehen. Die streckenbezogene Anordnung ist auf den unmittelbaren Bereich der Einrichtung und insgesamt auf höchstens 300 m Länge zu begrenzen. Die beiden Fahrtrichtungen müssen dabei nicht gleich behandelt werden. Die Anordnungen sind, soweit Öffnungszeiten (einschließlich Nach- und Nebennutzungen) festgelegt wurden, auf diese zu beschränken.“ Soweit Randnummer 13 der bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VWV-StVO (https://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_26012001_S3236420014.htm)) zu Zeichen 274 Zulässige Höchstgeschwindigkeit.

 

Mit den Hamburger Richtlinien für die Anordnung von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen (HRVV (https://suche.transparenz.hamburg.de/dataset/fortschreibung-der-hamburger-richtlinien-zur-anordnung-von-verkehrszeichen-und-verkehrseinricht?forceWeb=true)) hat die Behörde für Inneres und Sport Abweichungen von der bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung beschlossen, die sich negativ auf die Verkehrssicherheit vor sozialen Einrichtungen auswirken können und die Absicht des Bundesrats in wesentlichen Teilen unterläuft, die Anordnung von Tempo 30 km/h-Strecken auf Hauptverkehrsstraßen innerorts vor sozialen Einrichtungen zur Regel zu machen. Abweichend zur VWV-StVO verbieten die HRVV (https://suche.transparenz.hamburg.de/dataset/fortschreibung-der-hamburger-richtlinien-zur-anordnung-von-verkehrszeichen-und-verkehrseinricht?forceWeb=true) grundsätzlich die Anordnung von Tempo 30 bei mehrstreifiger Verkehrsführung. Die Behörde für Inneres und Sport stellt damit im Grundsatz den Verkehrsfluss vor die Verkehrssicherheit und weicht damit von Randnummer 1 VWV-StVO zu § 1 StVO ab: „Oberstes Ziel ist die Verkehrssicherheit. Hierbei ist die Vision Zero (keine Verkehrsunfälle mit Todesfolge oder schweren Personenschäden) Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen.“

 

Während die VWV-StVO entweder einen direkten Zugang der Einrichtung zur Straße oder im Nahbereich der Einrichtung starken Ziel- und Quellverkehr voraussetzt, um eine Tempo 30 km/h-Strecke in der Regel einzurichten, machen die HRVV (https://suche.transparenz.hamburg.de/dataset/fortschreibung-der-hamburger-richtlinien-zur-anordnung-von-verkehrszeichen-und-verkehrseinricht?forceWeb=true) einen direkten Zugang der Einrichtung zur Straße – unabhängig vom tatsächlich auftretenden Ziel- und Quellverkehr – zur zwingenden Voraussetzung zur Anordnung von Tempo 30 km/h. Die besonders kritischen Begleiterscheinungen von Ziel- und Quellverkehr (z.B. Bring- und Abholverkehr mit vielfachem Ein- und Aussteigen, erhöhter Parkraumsuchverkehr, häufige Fahrbahnquerungen durch Fußgänger, Pulkbildung von Radfahrern und Fußgängern) fehlen daher in der konkreten Analyse zur Erhöhung der Verkehrssicherheit und unterlaufen so die Vision Zero.

 

Mit der Antwort zur Drucksache 21-1726 (https://sitzungsdienst-altona.hamburg.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=1011062) hat die Behörde für Inneres und Sport erklärt, dass es sich bei den von ihr beschlossenen HRVV (https://suche.transparenz.hamburg.de/dataset/fortschreibung-der-hamburger-richtlinien-zur-anordnung-von-verkehrszeichen-und-verkehrseinricht?forceWeb=true) um Abweichungen von der bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung gemäß Randnummer 147 VWV-StVO zu § 46 Absatz 2 StVO handeln würde. Mit den Drucksachen 21-1907 (https://sitzungsdienst-altona.hamburg.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=1011292), 21-2139 (https://sitzungsdienst-altona.hamburg.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=1011577), 21-2519 (https://sitzungsdienst-altona.hamburg.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=1012040) sowie 21-2739 (https://sitzungsdienst-altona.hamburg.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=1012310) wurde die Behörde für Inneres und Sport aufgefordert mitzuteilen, in welchen Fällen in Hamburg Abweichungen von der StVO und VWV-StVO beschlossen wurden. Zusätzlich wurde um Darstellung der Auswirkungen auf den Bezirk Altona gebeten. Die Antworten deuten klar darauf hin, dass der Behörde keine Abweichungen von der StVO oder VWV-StVO bekannt sind.

 

Mit der Antwort zur Drucksache 21-2739 (https://sitzungsdienst-altona.hamburg.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=1012310) hat die Behörde für Inneres und Sport erklärt, dass Abweichungen von der bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung gemäß Randnummer 147 VWV-StVO zu § 46 Absatz 2 StVO „ausschließlich innerhalb der durch § 45 StVO, insbesondere zur Sicherung und Ordnung des Verkehrs, gesetzten Grenzen“ genutzt würden. Demnach könnten sich beschlossene Abweichungen als rechtswidrig herausstellen, wenn sie nicht der Verkehrssicherheit dienen. Die Behörde für Inneres und Sport teilte mit, dass die Abweichungen von der StVO und der VwV-StVO in Hamburg nicht zentral erfasst würden und zur Beantwortung des Auskunftsersuchens sämtliche Straßenakten der im Bezirk Altona zuständigen Straßenverkehrsbehörden händisch ausgewertet werden müssten.

 

Mit den Drucksachen 21-0348 (https://sitzungsdienst-altona.hamburg.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=1009311) und 21-1779 (https://sitzungsdienst-altona.hamburg.de/bi/vo020.asp?VOLFDNR=1011135) hat die Bezirksversammlung Altona der Behörde für Inneres und Sport bereits in den Jahren 2019 und 2021 empfohlen, die HRVV (https://suche.transparenz.hamburg.de/dataset/fortschreibung-der-hamburger-richtlinien-zur-anordnung-von-verkehrszeichen-und-verkehrseinricht?forceWeb=true) zu überarbeiten. Am 03.01.2022 hat die Behörde für Inneres und Sport eine Aktualisierung veröffentlicht, die weiterhin schwere Einschränkungen der VWV-StVO zu Lasten der Verkehrssicherheit vorsieht.

 

Verwaltungsrichtlinien, die von Bundesrecht abweichen und die Verkehrssicherheit in der Stadt negativ beeinflussen können, müssen transparent an zentraler Stelle erfasst werden und begründete Ausnahmefälle für bestimmte Einzelfälle bleiben. Die Ermessens­entscheidungen der jeweils zuständigen Straßenverkehrsbehörden über die Verbesserung der Verkehrs­sicherheit durch die Einrichtung von Tempo 30 km/h-Strecken in Hauptverkehrs­straßen vor Kindergärten, Schulen und Altenheimen dürfen nicht durch verwaltungsinterne Richtlinien in Punkten erheblich eingeschränkt werden, die von der VWV-StVO bereits abschließend geregelt wurden. Daher sollten auch in Hamburg mindestens die bundeseinheitlichen Regeln gelten.

 

Zahlreiche Städte und Kommunen sind überzeugt, dass selbst die bestehenden Regeln der StVO und VWV-StVO, die in Hamburg zusätzlich eingeschränkt werden, zur Einrichtung von 30 km/h-Strecken noch nicht ausreichen. Die kommunale Initiative „Lebenswerte Städte durch angemes­sene Geschwindigkeiten“ des Deutschen Städtetags bekennt sich zur Mobilitätswende und fordert dazu auf, die rechtlichen Voraussetzungen zu schaffen, dass Kommunen Tempo 30 als Höchstgeschwindigkeit innerorts anordnen können, wo sie es für notwendig halten.

 

In dem Positionspapier u.a. von Berlin, Bonn, Frankfurt, Hannover, Köln, Leipzig und Münster heißt es: „Lebendige, attraktive Städte brauchen lebenswerte öffentliche Räume. Gerade die Straßen und Plätze mit ihren vielfältigen Funktionen sind das Aushängeschild, das Gesicht der Städte. Sie prägen Lebensqualität und Urbanität. Ein wesentliches Instrument zum Erreichen dieses Ziels ist ein stadtverträgliches Geschwindigkeitsniveau im Kfz-Verkehr auch auf den Hauptverkehrsstraßen. Dort produziert der Autoverkehr in den Städten seine höchste Verkehrsleistung. Dort verursacht er aber auch die meisten negativen Auswirkungen – von den Lärm- und Schadstoffbelastungen für die dort lebenden Menschen über die Unfallgefahren bis zum Flächenverbrauch. Seit langem wissen wir, dass im Hinblick darauf eine Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h erhebliche positive Auswirkungen haben würde:

  • Die Straßen werden wesentlich sicherer, gerade für die besonders Gefährdeten, die zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs bzw. mobilitätseingeschränkt sind.
  • Die Straßen werden leiser – und das Leben für die Menschen, die an diesen Straßen wohnen, deutlich angenehmer und gesünder.
  • Bei Gewährleistung eines guten Verkehrsflusses kann auch die Luft in den Straßen sauberer werden, was allen zu Gute kommt, die hier unterwegs sind.
  • Die Straßen gewinnen ihre Funktion als multifunktionale Orte zurück, die mehr sind als Verbindungen von A nach B.
  • Und schließlich: die Straßen werden wieder lesbarer, Regeln einfacher und nachvollziehbarer (kein Flickenteppich mehr), das Miteinander wird gestärkt, der Schilderwald gelichtet.

 

Die Leistungsfähigkeit für den Verkehr wird durch Tempo 30 nicht eingeschränkt, die Aufenthaltsqualität dagegen spürbar erhöht. Und auf die Länge des Straßennetzes bezogen ist Tempo 30 in den allermeisten Städten ohnehin schon längst die Regel und nicht mehr die Ausnahme. Dies heißt auch: Tempo 30 ist eine Maßnahme für die Städte und Gemeinden und die Menschen, die dort wohnen – es ist keine Maßnahme, die sich gegen den Autoverkehr richtet. Auch in Hamburg soll die Verkehrssicherheit, wo es nötig ist, erhöht werden können.

 

Vor diesem Hintergrund beschließt die Bezirksversammlung:

 

Die Bezirksversammlung empfiehlt der Behörde für Inneres und Sport gemäß § 27 BezVG,

 

  1. Richtlinien zu Abweichungen von der StVO und VWV-StVO in Hamburg so anzupassen, dass Regelungen der bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VWV-StVO), die der Verkehrssicherheit dienen, nicht eingeschränkt werden; insbesondere sollen die mit den Hamburger Richtlinien für die Anordnung von Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen (HRVV) eingeführten Beschränkungen der Ermessensentscheidungen zur Anordnung von Tempo 30 km/h-Strecken bei mehrstreifiger Verkehrsführung entfallen;

 

  1. entsprechend der VWV-StVO die konkreten, besonders kritischen Begleiterscheinungen von Ziel- und Quellverkehr („z. B. Bring- und Abholverkehr mit vielfachem Ein- und Aussteigen, erhöhter Parkraum­suchverkehr, häufige Fahrbahnquerungen durch Fußgänger, Pulkbildung von Radfahrern und Fußgängern“) als alternatives Kriterium zur Lage der Zugänge der Einrichtungen zur Anordnung von Tempo 30 km/h-Strecken in den HRVV zu berücksichtigen,

 

  1. die oberste Straßenverkehrsbehörde A3 anzuweisen, dass Abweichungen von der StVO oder VWV-StVO mittels Verwaltungsrichtlinien künftig nur noch zulässig sind, wenn sich die Abweichungen positiv auf die Verkehrssicherheit auswirken,

 

  1. Verwaltungsrichtlinien wie die HRVV, die von der StVO oder VWV-StVO abweichen, künftig in einem Verzeichnis zu erfassen und zusammen mit dem Verzeichnis im Hamburger Transparenzportal zu veröffentlichen.

 

Die Bezirksversammlung empfiehlt der Behörde für Verkehr und Mobilitätswende gemäß § 27 BezVG,

 

  1. der Initiative „Lebenswerte Städte durch angemessene Geschwindigkeiten“ des Deutschen Städtetags beizutreten;

 

  1. sich zusammen mit anderen Bundesländern im Bundesrat dafür einzusetzen, dass die Regelgeschwindigkeit innerorts auf 30 km/h festgelegt wird.

 

 

Petitum/Beschluss

:

Die Bezirksversammlung wird um Zustimmung gebeten.

 

Anhänge

ohne