21-3437

Vision Zero – welche Konsequenzen hat dieses Ziel für die Mobilitätspolitik in Eimsbüttel?

Anfrage gem. § 27 BezVG

Sachverhalt

21.11.2022

Lfd. Nr. 98 (21)

 

Anfrage nach § 27 BezVG der Mitglieder der Bezirks­versammlung Eimsbüttel, Sebastian Dorsch, Robert Klein, Kathrin Warnecke, Jim Martens und Harald Hasselmann (GRÜNE-Fraktion)

 

Vision Zero – welche Konsequenzen hat dieses Ziel für die Mobilitätspolitik in Eimsbüttel?

 

Die Anfrage wird von der Behörde für Inneres und Sport (BIS) sowie von der Behörde für Verkehr und Mobilitätswende (BVM) wie folgt beantwortet:

 

 

 

Bei Unfällen im Straßenverkehr kamen nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2021 in Deutschland 2.569 Menschen ums Leben und es gab 54.826 Schwerverletzte, in Hamburg wurden 20 Menschen getötet und 772 schwer verletzt. Laut einer umfassenden Studie von 2017 sind von einem einzigen Unfalltod im Schnitt 113 Menschen unmittelbar betroffen: 11 Angehörige, 4 enge Freunde, 56 Bekannte, 42 Einsatzkräfte.

Vor diesem Hintergrund haben Bundestag und Bundesrat im Sommer 2021 entschieden, dass die Vision Zero im Straßenverkehr grundlegend für sämtliche durchzuführenden Maßnahmen sein soll, das heißt: Keine Verkehrsunfälle mit Todesfolge oder schweren Personenschäden. Um dies zu erreichen, wurde die Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) geändert. Bei dieser handelt es sich um Vorgaben dazu, wie die StVO umgesetzt werden und die Straßenverkehrsbehörden vorgehen sollen. Bis dahin hieß es in Artikel 1 VwV-StVO lediglich:

„Die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) regelt und lenkt den öffentlichen Verkehr.“

Dieser Artikel wurde mit einem wichtigen Zusatz ergänzt, welcher dafür sorgt, dass die Vision Zero im Straßenverkehr das vorrangige Ziel sein soll:

„Oberstes Ziel ist dabei die Verkehrssicherheit. Hierbei ist die „Vision Zero“ (keine Verkehrs­unfälle mit Todesfolge oder schweren Personenschäden) Grundlage aller verkehrlichen Maß­nahmen.“

Das neue vorrangige Ziel Vision Zero hat also einen vorausschauenden Charakter: Vision Zero ist die Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen, um damit in Zukunft das Ziel „keine Verkehrsunfälle mit Todesfolge oder schweren Personenschäden“ zu erreichen.

Was bedeutet dies für die Mobilitätspolitik in Hamburg bzw. konkret in Eimsbüttel? Die Bezirks­politik fordert in regelmäßigen Abständen für verschiedene Straßen und Verkehrssituationen verkehrsberuhigende und verkehrssichernde Maßnahmen wie Tempo 30, Fußgänger-Überwege (auch bei Tempo 30), längere Ampelphasen, Modalsperren, Überholverbote, etc.

In sehr vielen Antworten der zuständigen Verkehrsbehörden auf Ebene der Stadt (Verkehrsdirektion als Zentrale Straßenverkehrsbehörde) und der Polizeikommissariate (sog. untere Verkehrsbehörden) werden dann die Unfallstatistiken der kritisierten Verkehrssituationen ausgewertet. Der Blick in die Vergangenheit ergibt dann häufig das Ergebnis:

„Nach § 45 Absatz 1 der StVO i.V.m. § 45 Absatz 9 StVO sind einerseits Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist und andererseits insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden dürfen, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt.“

Ein Risiko, das insbesondere das genannte Rechtsgut Flüssigkeit des Verkehrs „erheblich“ übersteigt, kann nur in seltenen Fällen festgestellt werden. Aus diesem Blick in die Vergangenheit wird entsprechend meist kein Änderungsbedarf abgeleitet.

 

Fragen:

Vor diesem Hintergrund fragen wir die für die Verkehrssicherheit und Verkehrsplanung zuständigen Behörden, also die Behörde für Inneres und Sport (BIS) und Behörde für Verkehr und Mobilitätswende (BVM):

 

  1. Inwiefern ändert die o.g. Änderung des Artikel 1 VwV-StVO durch Ergänzung des vorrangigen Ziels Verkehrssicherheit mit Vision Zero die Bewertung von Verkehrs­situationen in Hinblick auf die Einführung von verkehrssichernden Maßnahmen?

 

Antwort BIS:

Bereits vor Anpassung des Artikels 1 VwV-StVO (Ergänzung des vorrangigen Ziels Verkehrssicherheit mit Vision Zero) im Jahr 2021 wurde durch den Senat die Drs. 21/15572 „Vision Zero – Konzept für mehr Verkehrssicherheit in Hamburg“ am 18.12.2018 veröffentlicht. Hierin sind konkrete Maßnahmen beschrieben. So verfolgt die Behörde für Inneres und Sport unverändert priorisiert Maßnahmen zur Umsetzung der „Vision Zero“. Darüber hinaus ist es anhaltend fester Bestandteil der grundsätzlichen polizeilichen Aufgabenwahrnehmung, den öffentlichen Verkehrsraum zu überwachen und verkehrssichernde Maßnahmen durchzuführen bzw. einzuleiten.

 

Antwort BVM:

Zuständigkeit liegt bei der BIS.

 

  1. Welche Daten werden in Zukunft neben den Statistiken, die vergangene Unfälle dokumen­tieren, vermehrt in die Verkehrsplanung einbezogen? Welche Aspekte (außer der Unfall­statistik) gelten als weitere Indikatoren für eine konkrete Gefahrenlage? Das Bundes­verwaltungsgericht führt dazu aus, dass es zur Annahme einer derartigen Gefahrenlage nicht des Nachweises bedarf, „dass jederzeit mit einem Schadenseintritt zu rechnen ist. Es genügt die Feststellung, die konkrete Situation an einer bestimmten Stelle oder auf einer bestimmten Strecke einer Straße lege die Befürchtung nahe, es könnten – mög­licherweise durch Zusammentreffen mehrerer gefahrenträchtiger Umstände – irgendwann in überschaubarer Zukunft mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Schadensfälle eintreten“. (BVerwG, Beschluss vom 12. September 1995, Az.: 11 B 23.95, NZV 1996, 86)

 

Antwort BIS:

Die Polizei Hamburg erhebt und verarbeitet verkehrsunfallstatistische Daten zur Unfallanalyse in der Verkehrsunfalldatenbank Euska (Elektronische Unfalltypensteckkarte). Zusätzlich beschäftigt sich die Unfallkommission, die aus Vertretern mehrerer zuständiger Behörden besteht, mit einzelnen Unfallhäufungsstellen. Hierbei und im täglichen polizeilichen Handeln werden die vorhandenen örtlichen Gegebenheiten regelmäßig in die Überlegungen einbezogen. Darüber hinaus unterliegt die Verkehrsplanung weiteren Indikatoren zur betreffenden Örtlichkeit. Dies obliegt jedoch den Straßenbaulastträgern, wie dem Bezirk selbst.

 

Antwort BVM:

Wesentliche Grundlagen der Verkehrsplanung sind die aktuellen Gesetze, Verordnungen und Regelwerke. Diese werden fortlaufend fortgeschrieben und berücksichtigen die aktuellen Erkenntnisse und Studien der Unfallforschung.

 

Zweite Teilfrage: BIS.

 

  1. Welche Rolle spielt bei der Umsetzung der Vision Zero und insbesondere beim Schutz des Fuß- und Radverkehrs das jüngst auch von BIS und BVM unterzeichnete Hamburger Bündnis für den Fuß- und Radverkehr?

 

Antwort BIS:

Innerhalb der Behörde für Inneres und Sport hat der Schutz von ungeschützten Verkehrsteilnehmern einen besonderen Stellenwert. Im Rahmen des Hamburger Bündnis für den Radverkehr führt die BIS mit der Kampagne „Hamburg Gibt Acht!“ eine Verkehrssicherheitskampagne, die sich insbesondere mit der präventiven Verkehrssicherheitsarbeit zur Vermeidung von Unfällen mit ungeschützten Verkehrsteilnehmern beschäftigt. Zudem hat die Polizei Hamburg ihre Anstrengungen zum Schutz ungeschützter Verkehrsteilnehmer in diesem Jahr mit einer Reihe von Schwerpunktaktionen unter dem Motto „mobil aber sicher“ auf präventiver und repressiver Ebene weiter verstärkt. Die gesamte Verkehrssicherheitsarbeit wird im politischen Ziel besonders hinsichtlich der in Rede stehenden Vereinbarungen und im Sinne zur Umsetzung von „Vision Zero“ betrachtet und behördenübergreifend umgesetzt. 

 

Antwort BVM:

Das am 17. Mai 2022 unterzeichnete Bündnis für den Rad- und Fußverkehr greift in Abschnitt 3.2.3 ausdrücklich das Thema „Verkehrssicherheit für alle – Vision Zero“ auf und unterstützt damit die entsprechende Hamburger Zielsetzung. Die Bündnisvereinbarung wird zurzeit für eine Webversion aufbereitet und demnächst im Internet zum Download zur Verfügung gestellt.

 

  1. Was bedeuten die vorherigen allgemeinen Aussagen für folgende konkrete Maßnahmen?

 

  1. Tempo 30 verringert laut Forschung und Empirie zum einen die Unfallwahrscheinlich­keit und zum anderen, für die Vision Zero zentral, die Schwere der Unfallfolgen. In Vorreiter-Städten gilt Tempo 30 als zentrale Maßnahme zur Erreichung der Vision Zero. Mit Grund: In Bereichen mit Tempo 30 ereignen sich „40 Prozent weniger Unfälle mit Personenschäden … als in vergleichbaren Abschnitten mit Tempo 50“[1] und „Während ein Auto mit Tempo 30 nach 14 m schon steht, ist ein Fahrzeug mit Tempo 50 km/h an der gleichen Stelle immer noch mit 50 km/h unterwegs. Es steht erst nach 28 Metern, davon sind 14 Meter ungebremste Fahrt während der Schrecksekunde. Ist ein Zusammenstoß jedoch unausweichlich, sind die Verletzungsfolgen geringer. Denn prallt ein Fahrzeug mit 50 km/h mit einem Fußgänger zusammen, entspricht der Unfall einem Sturz aus 10 Metern Höhe, und die Überlebenschancen für den Fußgänger liegen bei gerade einmal 30 Prozent. Ist das Auto dagegen mit Tempo 30 unterwegs, entspricht eine Kollision einem Sturz aus 3,5 Metern. Die Überlebenschancen steigen auf 90 Prozent.“[2] Was bedeutet dies für die Verkehrsplanung in Hamburg, konkret in Eimsbüttel?

 

Antwort BIS:

Die Verkehrsplanung obliegt in Hamburg den Straßenbaulastträgern (Behörde für Verkehr und Mobilitätswende, Bezirke und HPA). Die Anordnung von Tempo 30 Strecken oder Zonen richtet sich nach den aktuellen rechtlichen Bestimmungen. In diesem Rahmen wurden in Hamburg vor einer Vielzahl von sozialen Einrichtungen entsprechende Tempo 30 Strecken eingerichtet.

 

Antwort BVM:

Zuständigkeit liegt bei der BIS.

 

  1. Fußgängerüberwege (FGÜ): Inwiefern tragen FGÜs auch bei Tempo 30, wo sie „in der Regel“, aber nicht grundsätzlich als „entbehrlich“ (R-FGÜ) gelten, zur Umsetzung der Vision Zero für besonders verletzliche Verkehrsteilnehmer*innen wie z.B. Schüler*innen bei?

 

Antwort BIS:

Die Anordnung von Fußgängerüberwegen in Tempo 30 Bereichen unterliegt der Prüfung im Einzelfall. Darüber hinaus gehende Erhebungen zur Fragestellung liegen der Behörde für Inneres und Sport nicht vor.

 

Antwort BVM:

Zuständigkeit liegt bei der BIS.

 

  1. Ampelphasen: Müssen die Regelungen für Ampelphasen für Fuß- und Radverkehr umgeplant werden, um das Ziel Vision Zero zu erreichen?

 

Antwort BIS:

Werden im Einzelfall durch Gefahrenlagen oder veränderte Verkehrsabläufe und Verkehrsströme Anpassungen an den Lichtzeichenanlagen polizeilich erkannt, werden diese an die zuständige Stelle des Straßenbaulastträgers (Landesbetrieb für Straßen, Brücken und Gewässer) kommuniziert.

 

Antwort BVM:

Nein. Die Signalsteuerung in Hamburg entspricht den in den geltenden Regelwerken und Richtlinien festgelegten Sicherheitsstandards. In der Verkehrs- und Signalanlagenplanung hat die Sicherheit und vor allem die zuverlässige Unfallvermeidung die höchste Priorität und genießt immer Vorrang vor der Verkehrsflussverbesserung für einzelne Verkehrsteilnehmergruppen.

 

  1. Mischverkehr: Inwieweit ist bei Führung des Radverkehrs im Mischverkehr auf der Fahrbahn die regelhafte Anordnung von Tempo 30 mit den entsprechend geringeren Geschwindigkeitsunterschieden ein geeignetes Mittel, um der „Vision Zero“ näher zu kommen? Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags führt dazu aus (Ausarbeitung WD 7 – 3000 – 071/20, 2.11) „Zur Ordnung des Verkehrs gehören […] die Flüssigkeit und Leichtigkeit des fließenden Verkehrs. Entscheidend ist dabei weniger die Gewährleistung der Schnelligkeit als die Bewältigung des Massenverkehrs. Vgl. Schurig, a.a.O., S. 723“

 

Antwort BIS:

Verkehrsplanungen stehen zunächst in der Verantwortung der Straßenbaulastträger selbst. Die Polizei als Straßenverkehrsbehörde nimmt daher im Einzelfall zur Bewertung von Gefahrenlagen und Rechtsvorgaben Stellung. Die Bewertung folgt dabei stets den geltenden Rechtsvorschriften. Die Annahme, dass eine niedrigere Geschwindigkeit und entsprechend geringere Geschwindigkeitsunterschiede im Mischverkehr der „Vision Zero“ förderlich sind, werden dabei grundsätzlich geteilt.

 

Antwort BVM:

Eine geringere zulässige Höchstgeschwindigkeit hat positive Auswirkungen auf die Unfallhäufigkeit und die Unfallschwere. Die Anordnung von Tempo 30 und eine Führung von Radverkehr im Mischverkehr auf der Fahrbahn kommt eher bei geringen bis moderaten Verkehrsstärken von bis zu ca. 10.000 Kfz/Tag in Betracht. Signifikante Auswirkungen auf die Abwicklung des Verkehrs sind vor diesem Hintergrund nicht zu erwarten (Vgl. Schurig, a.a.O., S. 723“ 1 Studie zitiert bei https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Tempo-30-in-Gemeinden-Verkehrder-Zukunft-oder-Rueckschritt,tempodreissig116.html und https://de.30kmh.eu/warum-30-kmh/tempo-30-rettet-leben/ – ähnliche Angaben finden sich auch beim ADAC: „Unbestreitbar ist lediglich der Zusammenhang zwischen Anhalteweg (Reaktionsweg und Bremsweg) und Geschwindigkeit bzw. zwischen Aufprallgeschwindigkeit und Unfallschwere“).

 

Ausgehend von der Grundannahme, dass mit einer höheren Fahrgeschwindigkeit auch die erhöhte Gefahr eines schweren Unfalls einhergeht (Mazzotti/Domes, NZV 2007, 7, 10), lässt sich grundsätzlich argumentieren, dass die Erreichung der „Vision Zero“ mit einer regelhaften Anordnung von Tempo 30 gefördert wird.

 

 

Petitum/Beschluss

ohne

 

Anhänge

keine